Seite wählen

Normalwerte geben darüber Aufschluss, ob man gesund, krank oder Risikopatient ist. Das erscheint einfach: Nach beispielsweise einem Blutbild vergleicht man die gemessenen Werte mit den Normalwerten. Weichen die eigenen Werte nach unten oder oben ab, gilt dies als Zeichen dafür, dass man möglicherweise nicht komplett gesund ist und behandelt werden müsste. Allgemein wird den Normalwerten großes Vertrauen entgegengebracht. Ist dies wirklich berechtigt? „Risikopatient“ zu sein, habe sich inzwischen zu einer eigenen Krankheit entwickelt, so urteilte ein finnischer Forscher in einem Editorial, das kürzlich im „British Journal of Sports Medicine“ veröffentlicht wurde.

Forscher: Grenzwerte sind nicht alles

Laut Teppo Järvinen, Forscher am Zentrum für Orhtopädie und Trauma and der Universität von Helsinki,, verstünden Ärzte oft ebenso wenig die Statistiken wie ihre Patienten. Dadurch bestehe die Gefahr, dass sie Risiken und den möglichen Nutzen von präventiven Behandlungen falsch einschätzten. Dieses ärztliche „Analphabetentum“, so Järvinen, gefährde die Präventionsmedizin. Järvinen wirft Ärzten vor, zu oft den Nutzen von Therapien aufgrund falscher Interpretationen von Statistiken zu positiv darzustellen und das Risiko bei unterlassener Therapie zu übertreiben.

Er führte dafür verschiedene Beispiele an. So seien etwa vor gut zehn Jahren die Grenzwerte für Blutdruck so weit gesenkt worden, dass die meisten Norweger plötzlich als Risikopatienten galten. Diese zählten damals allerdings zu den gesündesten Einwohnern Europas. Wären sie alle gegen ihren vermeintlich zu hohen Blutdruck behandelt worden, hätte dies die Gesundheitskosten Norwegens sicherlich gesprengt. Für wirklich notwendige Behandlungen wäre dann das Geld knapp geworden.

Gleiches gelte für einen Vorstoß der US-amerikanischen Osteoporose-Stiftung. Diese regte an, dass Menschen mit einem Risiko von drei Prozent, innerhalb der nächsten zehn Jahre eine Hüftfraktur zu erleiden, vorsorglich gegen Osteoporose behandelt werden sollten. Dies betreffe laut Järvinen fast drei Viertel der Bevölkerung über 65 Jahre, und sogar 90 Prozent der Über-75-jährigen. Die Kosten wären auch hier immens, der Nutzen fraglich.

Manchmal ist es besser, nicht zu behandeln

Gemeinhin geht man davon aus, dass Patienten in eine präventive Behandlung einwilligen, wenn sich ihr absolutes Risiko damit um mindestens 20 bis 50 Prozent vermindert. Laut Järvinen verschrieben Ärzte im Fall der bereits genannten Osteoporose-Prävention allerdings schon die entsprechenden Arzneimittel, wenn die Wahrscheinlichkeit, keine Hüftfraktur zu erleiden, von 97,7 auf 98,9 Prozent steigt. Dies entspricht zwar einem relativen Nutzen von 50 Prozent, die absoluten Zahlen sprechen aber eine andere Sprache: Das individuelle Risiko der Patienten, tatsächlich eine Hüftfraktur zu erleiden, ist auch ohne Behandlung verschwindend gering. Die vorbeugende Medikation verringert das absolute Risiko um lediglich rund ein Prozent.

Befunde sollten stets kritisch hinterfragt werden. Es ist leicht, in Blutbild, Ultraschall oder Röntgenbild Abweichungen zu Normalwerten festzustellen. Nicht immer liegt deswegen aber gleich eine behandlungsbedürftige Krankheit zugrunde, im Gegenteil, der Patient verspürt nicht selten absolut keine Beschwerden. In diesem Fall sollten Ärzte das tun, was in diesem Fall das Beste für den Patienten ist: Nichts. Man darf nie vergessen:  Jede Behandlung kann auch Risiken bergen. Ein solches Risiko ohne wirklichen Anlass einzugehen, widerspricht dem allgemeinen Verständnis des Arztberufs.