Seit dem Absturz des Germanwings-Airbus am 24. März dreht sich die mediale Berichterstattung vornehmlich um ein Thema: Die angebliche psychische Erkrankung, an der der Co-Pilot gelitten haben, und aufgrund derer er die Maschine möglicherweise absichtlich zum Absturz gebracht haben soll. Während die zuständigen Behörden noch mit der Auswertung der Fakten beschäftigt sind, üben sich Medien, Experten und Politiker nicht unbedingt in Zurückhaltung, wenn es um Spekulationen zu möglichen Szenarien und Ursachen für das Unglück geht. Derartige Mutmaßungen gehen dabei zu Lasten psychisch Kranker, die damit im Extremfall pauschal diskriminiert und stigmatisiert werden.
„Zweite Erkrankung“ Stigmatisierung
Laut Medienberichten soll der Co-Pilot zumindest einmal in der Vergangenheit an einer schweren depressiven Episode gelitten haben. Mit dieser Erkrankung verbindet man eher tiefe Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Apathie als Gewaltbereitschaft. Tatsächlich sind erweiterte Suizide, wie dies möglicherweise im Fall des Absturzes der Fall war, sehr selten. Zwar kommt eine schwedische Studie zu dem Ergebnis, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Gewaltverbrechen zu begehen, bei Depressiven leicht erhöht ist, daraus lassen sich allerdings keine belastbaren Rückschlüsse darauf ziehen, ob dies durch die Depression selbst verursacht ist oder durch andere Faktoren. Die Interpretation derartiger Studien sollte daher besonders im Hinblick auf die Stigmatisierung einer ganzen Personengruppe, nämlich psychisch kranker Menschen, mit äußerster Vorsicht erfolgen. Stigmatisierung wird häufig als „zweite Erkrankung“ der Betroffenen bezeichnet, und tatsächlich kann daraus ein ebenso hoher Leidensdruck erwachsen wie aus der psychischen Krankheit selbst. Den Betroffenen werden, teils aus Unwissenheit, Eigenschaften zugeschrieben, aufgrund derer sie diskreditiert und diskriminiert werden. Zwar werden psychisch Kranke nicht mehr wie vor einigen hundert Jahren als „vom Teufel besessen“ oder ähnliches gesehen, dennoch haben sich bis heute zahllose Vorurteile gehalten. So werden sie zum Beispiel als gefährlich und unberechenbar eingestuft, darüber hinaus seien sie selbst schuld an ihrer angeblich unheilbaren Erkrankung. Derartige Zuschreibungen werden durch Wissensdefizite drastisch verschärft, auch die Art der derzeitigen Berichterstattung trägt dazu bei. Diese verwendet deutlich häufiger emotionale Stilmittel, als objektiv zu informieren. Der Co-Pilot wird dadurch zu einem unberechenbaren, gefährlichen „Irren“, der mutwillig den Tod der Passagiere in Kauf nahm, stilisiert.
BÄK-Präsident: Patienten haben Anrecht auf ärztliche Schweigepflicht
Dieser Effekt wird durch Debatten wie die um eine Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht noch befeuert. Diese entbrannte kurz nach Bekanntwerden der mutmaßlichen psychischen Erkrankung des Co-Piloten. Daraufhin forderte CDU-Verkehrsexperte Dirk Fischer, Ärzte gegenüber dem Luftfahrtbundesamt von ihrer Schweigepflicht zu entbinden. Diese Forderung erscheint nicht ohne Grund aktionistisch und populistisch. Darauf machte Prof. Frank-Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), aufmerksam. Die verfassungsrechtlich geschützte Schweigepflicht sei ein Menschenrecht und müsse geschützt werden. Eine Lockerung könnte nach sich ziehen, dass Patienten den behandelnden Ärzten wichtige Informationen vorenthalten. Die Diskussion lässt darüber hinaus den Eindruck entstehen, dass psychisch Kranke per se für bestimmte berufliche Tätigkeiten ungeeignet seien. Damit wird einer ganzen Personengruppe die Befähigung abgesprochen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen oder ein gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Darüber hinaus wird suggeriert, dass beispielsweise eine depressive Episode in der Vergangenheit bedeute, das ganze Leben lang krank und berufsunfähig zu sein. Es ist unangemessen, auf Basis unvollständiger Informationen und Spekulationen die mögliche Rolle einer psychischen Erkrankung des Co-Piloten beim Absturz zu diskutieren. Die jahrelange Aufklärungsarbeit zu psychischen Erkrankungen scheint damit in kürzester Zeit zunichte gemacht. Im Hinblick auf die Vorurteile, die psychisch Kranken in der aktuellen öffentlichen Diskussion entgegengebracht werden, kann man daher aus deren Perspektive leider getrost Sartre zitieren: L‚ Enfer c’est les autres, die Hölle, das sind die anderen.