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Autisten können Gesichtsausdruck und Mimik ihres Gegenübers nicht mit den entsprechenden Emotionen verknüpfen. In der alltäglichen Interaktion mit Mitmenschen entstehen so schnell Missverständnisse und Konflikte. Vielleicht gibt es für dieses Problem bald eine Lösung – das auf einem Produkt basiert, die sich bislang nicht wirklich durchsetzen konnte.

Eine Technologie ersetzt eine Fähigkeit, derer es Autisten mangelt: Sension ist ein Gesichts-Tracking-Programm, das bereits erfolgreich in der Automobilbranche und der Konsumentenforschung eingesetzt wird. Es erkennt anhand von Gesichtszügen und -bewegungen beispielsweise, ob eine Person zornig, gelangweilt oder skeptisch ist. Daher ist der Einsatz von Sension als Hilfsmittel für Autisten nur der nächste logische Schritt. Die Entwickler entschieden sich für Google Glass als Hardware. Erste klinische Tests laufen bereits.

Projekt gescheitert, aber immer noch interessant für Wissenschaftler

Der Minicomputer Google Glass des gleichnamigen Unternehmens hat sich bislang nicht auf breiter Ebene durchsetzen können. Trotz mehrfacher Ankündigungen kam Google Glass nie in den offiziellen Handel. Lediglich im Rahmen eines Betaprogramms wurde eine begrenzte Menge der Brille verkauft. Im Januar 2015 wurde der Verkauf schließlich komplett eingestellt. Google bezeichnete Glass selbst als ein Flop, der die Erwartungen nicht erfüllt habe. Datenschützer sehen Google Glass als tiefgreifenden Eingriff in die Privatsphäre der Nutzer und warnen vor den Konsequenzen. Google Glass sei in der Lage, die Umgebung des Trägers auszuspähen und die Daten auf Google-eigene Server zu übertragen.

Unternehmen und Wissenschaftler sehen dennoch großes Potenzial in dem Produkt und erforschen neue Anwendungsmöglichkeiten. Eine App, die über die Kamera von Google Glass Emotionen identifizieren kann, könnte Autisten den Alltag deutlich erleichtern. Soziale Interaktionen stellen für sie eine erhebliche Belastung dar, da sie in ihrer Kommunikation häufig erheblich eingeschränkt sind und gleichzeitig ihr Gegenüber nicht „lesen“ können. Hier setzt Sension in Verbindung mit Google Glass an:  Aus der Egoperspektive des Trägers erfasst die eingebaute Kamera den Gesichtsausdruck des Gegenübers und zeigt an, ob die Person fröhlich, traurig, überrascht oder wütend ist. Hinter Sension steckt der deutsche Stanford-Absolvent Catalin Voss, der sich als Teenager in Eigenregie das Programmieren von Apps beibrachte.

Mehr als nur Unterhaltungselektronik

Sension ist nicht das erste Healthcare-Projekt, das auf Google Glass basiert. Das Startup Glasschair, entstanden aus einem Praxisseminar der Technischen Universität München (TUM), verleiht elektrischen Rollstühlen eine intuitive Steuerung über die smarte Brille. Mittels Kopfbewegungen und Sprachkommandos können Rollstuhlfahrer den Rollstuhl ohne Hände steuern. Die Kommandos werden per Bluetooth an einen Adapter gesendet, der an die Steuereinheit des Rollstuhls angeschlossen werden kann. Die Projektgründer wollen sich langfristig nicht nur auf Google Glass beschränken. Sie arbeiten aktuell an einer Alternative zu der doch sehr teuren Datenbrille.

Auch das Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston hat drei Monate lang erfolgreich den Einsatz der Datenbrille Google Glass in der Notaufnahme getestet. Die beteiligten Ärzte bewerteten insbesondere die Möglichkeit, am Bett des Patienten auf klinische Daten zuzugreifen, und gleichzeitig die Hände frei zu behalten, als stärkste Funktion. Um weitere Einsatzgebiete für Google Glass zu erschließen, hat Google die Plattform Glass at Work gegründet. Derartige Kooperationen werden in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Das Beratungsunternehmen Grand View Research bescheinigte Wearables im Sommer im Rahmen einer Marktstudie, den Sprung in den Mainstream gemeistert zu haben. Besonders im Bereich Brillen und Smartwatches sowie Fitnessarmbänder schlummere großes Marktpotenzial. Darüber hinaus werden laut der Untersuchung künftig auch Kommunikations- und Netzwerktechnologien eine zentrale Rolle spielen. Aktuell hemmten allerdings noch der hohe Stromverbrauch der Wearables sowie die meist kurze Batterielebensdauer das Wachstum. Die bisherigen Projekte zeigen dennoch eindrucksvoll, welche zusätzlichen Einsatzmöglichkeiten sich für Unterhaltungselektronik finden lassen, wenn man bereit ist, um die Ecke zu denken.