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Wie sieht eigentlich die typische „Zielgruppe“ für aufsaugende Inkontinenzprodukte aus? Senioren und gebrechliche Ältere, Bewohner von Pflegeheimen? Sicher, unter diesen und ähnlichen Gruppen ist vermutlich die Mehrheit auf Windeln und Co. angewiesen, aber die Hersteller haben inzwischen auch jüngere, sprich: zahlungskräftige Menschen im Visier. Neben Umsatz- und Marktanteilsteigerung veranschaulicht dieser Schwenk aber auch einen Fakt, der noch viel zu selten betont wird: Inkontinenz kann jeden treffen.

Inkontinenz kann jeden treffen

Schätzungen zufolge leiden vier bis acht Prozent der Bevölkerung weltweit an Inkontinenz, insgesamt rund 400 Mio. Menschen. Lebensalter ist durchaus ein Risikofaktor für Inkontinenz, aber längst nicht der einzige. Auch junge Menschen können betroffen sein, beispielsweise nach Unfällen, aufgrund von Behinderungen oder nach der Geburt eines Kindes.

Doch noch ist Inkontinenz ein Tabuthema, und die Werbung transportiert hierzulande das Image, dass nur ältere Menschen betroffen sind. Im Ausland sind die Hersteller bereits deutlich weiter wenn es darum geht, Inkontinenzprodukten ein jüngeres Image zu verpassen. Der US-amerikanische Hersteller Kimberly-Clark hat für seine Inkontinenzlinie Depend sogar Serienstar Lisa Rinna (Melrose Place, Real Housewives of Beverly Hills) als Markenbotschafterin gewinnen können. Auch SCA bewegt sich für das Produkt Tena Man werberisch auf neuen Pfaden und schlägt in den viral gewordenen Werbeclips (unter anderem hier und hier) einen humorigen Unterton an.

Jay Gottleib, der bei Kimberly-Clark für das Inkontinenzgeschäft in Nordamerika verantwortlich ist, erklärt gegenüber „Bloomberg„: „Wir versuchen, das Produkt in unserer Werbung normaler und sogar lustig darzustellen, indem echte Menschen sagen ‚Hey, ich habe Inkontinenz, und es ist kein Drama'“.  Das Unternehmen schaltet mittlerweile sogar Werbung in Modemagazinen.

Mehr Selbstbewusstsein für Betroffene

Nun lässt sich argumentieren, dass Unternehmen wie Kimberly-Clark und SCA nicht als reine Menschenfreunde, sondern primär aus wirtschaftlichen Interessen neue Zielgruppen erschließen. Aufsaugende Inkontinenz ist ein Wachstumsmarkt, und die Hersteller wollen ihr Stück vom Kuchen. Es wäre naiv und weltfremd, ihnen das vorzuwerfen. Wichtiger ist es, sich auf die möglichen positiven Auswirkungen dieses Perspektivwechsels zu konzentrieren.

Inkontinenz kann durch eine offene, humorvolle und persönliche Ansprache der Betroffenen und der Bevölkerung aus dem Schatten der Tabuzone herausgeholt werden, Betroffene können vielleicht sogar ohne Scham über ihre Erkrankung sprechen. Letztendlich ist Inkontinenz genau so wenig ein persönlicher Makel, den es zu verstecken gilt, wie Heuschnupfen oder Kurzsichtigkeit. Langfristig könnte eine offene Diskussion, in der sich auch die Betroffenen selbstbewusst und auf Augenhöhe zu Wort melden, sogar die Versorgung verbessern.