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Das Gesundheitssystem steht vermutlich vor der größten Herausforderung seines bisherigen Bestehens: Dem demografischen Wandel und den daraus resultierenden Folgen. Die Menschen werden immer älter und damit steigt die Häufigkeit von Erkrankungen. Es müssen mehr Patienten versorgt werden, dadurch sind erhebliche Kostensteigerungen zu erwarten. Aber auch der technologische Fortschritt und Innovationen in der Medizin und Medizintechnik drehen an der Kostenschraube. Langfristig ist das Gesundheitssystem bei gleichbleibender Kostensteigerung nicht durch Sozialbeiträge und Steuermittel zu finanzieren. Daher werden Möglichkeiten gesucht, den Kostenanstieg abzudämpfen, ohne die Versorgungsqualität zu gefährden.

Eine App, um Krankenhauseinweisungen zu reduzieren

Vom Gesetzgeber wurden in der jüngeren Vergangenheit verschiedene Instrumente zu diesem Zweck eingeführt, beispielsweise das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG), welches die steigenden Kosten für Arzneimittel durch Nutzenbewertung und Preisverhandlungen zwischen Leistungserbringern und Herstellern kontrollieren soll. Langfristig müssen allerdings auch neue Wege beschritten werden. Dabei liegt es nah, auch die Vorteile der fortschreitenden Digitalisierung im Gesundheitswesen für Einspareffekte zu nutzen. Durch innovative Anwendungen und dadurch erreichte Effizienzsteigerungen könnten langfristig Kosten reduziert werden. Dies zeigt derzeit das amerikanische Healthcare-Startup „Care at Hand“. Dieses entwickelte eine mobile Anwendung für die Koordination der Patientenversorgung an der Schnittstelle zwischen Klinik und Pflege. Ziel ist es, durch engmaschiges Monitoring des Gesundheitszustands der Pflegebedürftigen verfrühte Wiedereinweisungen in eine Klinik zu vermeiden.

Die Pflegebedürftigen werden dafür täglich mittels „Smart Surveys“ befragt. Diese bestehen aus bis zu 15 Fragen, die App greift dabei auf einen Fragenkatalog von insgesamt über 2.000 Fragen zurück. Die Anwendung wertet anhand der Antworten aus, ob ein medizinisches Problem vorliegt und weitere Maßnahmen bis hin zur Einweisung in ein Krankenhaus notwendig sind. Nach Angabe der Entwickler würden sich in lediglich in einem von fünf Fällen Gründe für eine Krankenhauseinweisung zeigen, die Anzahl der Krankenhauseinweisungen konnte durch die App um fast 40 Prozent gesenkt werden, Allein im Staat Baltimore wurden durch die Nutzung der App Ausgaben von mehr als 2,6 Mio. Dollar eingespart.

Schmuddelkind Big Data – Kritiker sehen Patientenrechte in Gefahr

Die Grundlage der Auswertung der Fragebögen liefern medizinische Erkenntnisse, die aus großen Datenmengen gewonnen wurden, also Big Data Technologie. Während beispielsweise im Bereich Marketing Big Data schon zur Tagesordnung gehört, steckt das Sammeln und Auswerten großer Datenmengen im Gesundheitswesen allerdings noch in den Kinderschuhen und ist mit einem negativen Image behaftet. Die Zögerlichkeit ist weniger auf den Mangel an Entwicklungen, sondern vielmehr auf Bedenken aus Politik und Bevölkerung zurückzuführen. Die Frage, ob die Sicherheit und Anonymität patientenbezogener, sensibler Daten gewährleistet werden können, steht dabei an erster Stelle.

Für die Befürworter birgt Big Data dagegen das Potenzial, Gesundheit und Krankheit völlig neu zu verstehen und das Gesundheitswesen von Grund auf zu verändern. Das sehen auch Investoren so. In den USA profitierten Unternehmen, die Big Data Anwendungen entwickeln, am meisten von deren Gunst. Im Bereich Startups betrug die Gesamtsumme an Investitionen im ersten Quartal 2015 rund 202 Mio. Dollar und überstieg damit deutlich die Investitionen in anderen Healthcare-Bereichen.

Um die Berührungsängste abzubauen, muss durch eine Verankerung in den Patientenrechten sichergestellt sein, dass die Patienten die Verfügungshoheit über ihre Daten behalten. Ein Beispiel aus der Schweiz zeigt, dass das funktionieren kann. Dort schlug der Verein „Daten & Gesundheit“ die Gründung einer genossenschaftlich organisierten Datenbank vor. In dieser können individuelle Daten gespeichert und analysiert werden, wobei die Privatsphäre aller Personen, die zur Datenbank beitragen, stets gewahrt bleibt. Die Datenbesitzer entscheiden selbst, ob sie ihre Daten anonym der Forschung zur Verfügung stellen.

Auch in Deutschland könnte eine derartige Entwicklung der Debatte um Big Data im Gesundheitswesen eine neue Richtung geben. Bisher sieht diese nämlich so aus, dass Befürworter Big Data vor jeder Kritik gefeit als Allheilmittel für sämtliche Probleme darstellen, Kritiker dagegen ausschließlich auf die möglichen negativen Folgen hinweisen, die Frage lautet zusammengefasst: Wollen wir die Daten nutzen oder nicht? Dies ist jedoch zu kurz gedacht. Die Daten sind schließlich vorhanden, lediglich hinsichtlich einer patientenorientierten, sicheren Nutzung der Daten wurden bisher kaum erfolgsversprechende Vorschläge präsentiert. Eine objektive Diskussion darf angesichts der Kostenentwicklung und der Qualitätsfrage im Gesundheitssystem aber nicht mehr lange auf sich warten lassen.